Vorwändige Wahlauswertung
- Sascha Kodytek
- 6. Feb.
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. März
Vor knapp einem halben Jahr, entschied sich die sächsische Landstagwahl. In dieser Wahl zeigten sich Tendenzen, die sich in allen demokratischen Wahlen der neueren Geschichte zeigen und sich mit der Wahl von Donald Trump auf ihren vorläufigen Höhepunkt zuspitzten. Alles, was nun noch kommen mag, ist bloß der konsequente Auswuchs einer Politik, die das Niedere und Stumpfe im Menschen adressiert und letztlich auf den Vorteil der Wenigen statt auf das Vorankommen der Vielen zielt. Oder wie Erich Kästner es ausdrückte: „Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“
Bei der sächsischen Landtagswahl stellte ich mich für die SPD Sachsen im Wahlkreis 29 im Leipziger Südwesten zur Wahl. Mein Schwerpunkt: Reform der Schuldenbremse, Ausbau der Infrastruktur zur Stärkung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und ein tariftreues Vergabegesetz, welches durch eine höhere Tarifbindung für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen in Sachsen sorgt.
In meinem Wahlkreis liegt eine der größten deutschen Plattenbausiedlungen, aber auch eingemeindete Dörfer, Altbau und Einfamilienhäuser prägen die Landschaft. Die Bevölkerung ist tendenziell einkommensschwach, laut Statistik gleichzeitig sehr jung und sehr alt. Es gibt einige mit Migrations- und Fluchthintergrund aber auch Leipziger Originale, welche die Plattenbauten, in denen sie heute noch wohnen, mit den eigenen Händen aufgebaut haben. Kurzum, es ist ein Gebiet, welches von verschiedenen Leuten in verschiedenen Lebenslagen bevölkert wird und deshalb eine Partei wie die SPD braucht, die nicht auf Klientelpolitik abstellt sondern eine Politik betreibt, welche das Wohl der Allgemeinheit in den Blick nimmt. Dementsprechend konnte ich mit unserem exzellenten Wahlprogramm aufrichtig und überzeugt in den Wahlkampf für die SPD Sachsen starten. Obendrauf pflegt der Ortsverein Leipzig West, welcher den Wahlkampf vor Ort wesentlich trug, eine unprätentiöse, wertschätzende und engagierte Kultur, die den Wahlkampf auch menschlich zu einer guten Erfahrung machte. Damit aber soll auch schon alles zu diesem sächsischen Wahlkampf gesagt sein, zu dem es eigentlich noch vieles zu sagen gäbe. Denn diese Wahl, wurde wie fast alle Wahlen der jüngeren Vergangenheit im Kern von der Großwetterlage geprägt. Nicht unser Wahlprogramm oder die Menge der gehängten Plakate war maßgeblich entscheidend. Entscheidend war, was in der Welt und in Berlin passiert. Womit diese Wahl hier einen perfekten Vorwand bietet, zwei Gedanken zu teilen, die uns Demokraten nach meiner Ansicht, ganz allgemein auf unserem Weg in die Zukunft beschäftigen sollten:
1. Die Konzentration von Reichtum und ökonomischer Macht, in wenigen Händen, ist drauf und dran, unsere demokratischen Systeme endgültig zu zersetzen.
Das ist ein alter Hut. Aber bekanntlich hatten Hüte früher noch Qualität. So auch hier. Bereits 1946 sagte der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Schuhmacher: „Die deutsche Geistesgeschichte und die deutsche politische Geschichte und die deutschen ökonomischen Klasseninteressen des Großbesitzes, haben zu dem unausweichbaren Punkt geführt, dass in Zukunft die Demokratie in Deutschland sozialistisch sein muss oder gar nicht sein wird. Die Demokratie verlangt den Sozialismus und der Sozialismus verlangt die Demokratie.“ Warum? Weil nicht auf der einen Seite, einige Wenige den Großteil der Vermögen und Wirtschaft privat besitzen können und auf der anderen Seite die Demokratie als Selbstbestimmung der Vielen auf Dauer zu existieren vermag. Macht für Alle bei gleichzeitiger Macht für Wenige, ist ein unüberwindbarer Widerspruch in sich.
Jeder Milliardär, jede Multi-Millionärin, ist ein demokratisches Risko, weil deren Geld, Einfluss und Besitz mit dem wichtigsten demokratischen Grundsatz bricht: Der gleichmäßigen Verteilung von Gestaltungsmacht unter der Bevölkerung. Ein Grundsatz, der in unserer Verfassung formal unter dem Prinzip „Ein Bürger, eine Stimme“ Ausdruck findet. In der praktischen Welt jedoch, spricht, wer viel Vermögen steuert, immer mit vielen Stimmen. Er hat Stimmen über den Lobbyismus, er hat sie über Spenden, er hat sie über den Privatbesitz an Medien, über die Lenkung von Unternehmen, über Vereine, Stiftungen und Vieles mehr.
Wer reich ist - das sind Wenige -, hat außerdem andere Interessen als die Nicht-Reichen, -das sind Viele. Wozu braucht ein Reicher ein funktionierendes staatliches Gesundheits- oder Bildungssystem, wenn er sich mit seinem Geld in private Organisationen abseilen kann? Wozu braucht ein Unternehmensbesitzer Arbeitnehmerrechte? Macht ist eine endliche Ressource. Wenn sie in den Händen weniger Menschen liegt, wird sie im Interesse der Wenigen angewandt. So einfach ist das.
Diesen Punkt machte ausgerechnet die ehemalige CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich. Sie sagte zu Elon Musk, dem reichsten Menschen der Welt, der nun fleißig den Rechtsextremismus unterstützt: "Wenn ein Mensch wie er Eigentümer von 60 Prozent aller Satelliten ist, die im Weltraum kreisen, dann muss uns das zusätzlich zu den politischen Fragen enorm beschäftigen. […] Politik muss den gesellschaftlichen Ausgleich bestimmen zwischen den Mächtigen und den normalen Bürgern. In der Bankenkrise, der Eurokrise, der Weltwirtschaftskrise war die Politik die letzte Instanz, die Dinge geradebiegen konnte. Und wenn diese letzte Instanz zu stark von Unternehmen beeinflusst wird, ob durch Kapitalmacht oder technologische Fähigkeiten, dann ist das eine ungekannte Herausforderung für uns alle."
Die Streitfrage ist nun, ob heute die Politik bereits zu stark von Unternehmen und der Kapitalmacht beeinflusst wird. Kurt Schuhmacher und ich würden das bejahen. In jedem wirtschaftlichem System das nicht sozialistisch ist, wo also Privatbesitz an Großunternehmen und gewaltige Vermögen erlaubt und gewünscht sind, ist der Einfluss der Besitzenden zu groß und bricht an verschiedenen Stellen der Demokratie den Rücken. Deshalb sagt Schuhmacher braucht die Demokratie den Sozialismus und deshalb bin ich ein demokratischer Sozialist – ein Sozialdemokrat. Wir wollen sicherstellen, dass unser politisches und ökonomisches System für Alle funktioniert und von Allen gemeinschaftlich kontrolliert wird - nicht von Wenigen, weder von einer bürokratischen Kaderklasse wie in der DDR noch von wenigen Reichen.
Bildung, Gesundheit, Pflege, Rente, Energie – die Gemeinschaft muss liefern. Um aber liefern zu können, muss sie stark sein. Und das ist sie heute nicht, weil sie sich von Einzelnen auf der Nase herumtanzen lässt. Die progressiven Steuersysteme, die seit Ende der 70iger Jahre ausgehöhlt worden sowie die bestehende betriebliche Mitbestimmung reichen nicht aus, den Nasentanz der Wenigen zu stören. Wir brauchen simplere und gleichzeitig wirksamere Mittel. Wir brauchen eine pauschale Begrenzung der Kapitalmacht, also auch des Vermögens, die sich am Medianvermögen der Bevölkerung orientiert. Wenn wir hier z.B. annehmen, dass der vermögendste Bürger zehnmal so viel besitzen darf, wie die Mitte der Bevölkerung, landeten wir heute bei etwas über einer Million in Privatbesitz.
Wir brauchen außerdem eine grundsätzlich demokratisierte gleichwohl aber effiziente Strukturierung von Großbetrieben, die erreicht werden kann, in dem Betriebe ab einer gewissen Größe sich über Genossenschaften, mitarbeitergeführte Unternehmen, interessensvertretungsgebundene Aufsichtsräte oder Unternehmen in Verantwortungseigentum organisieren. Wir brauchen zudem Gemeinnützigkeit und Selbstzweck in essenziellen Wirtschaftsbereichen unserer Gesellschaft wie den Medien, der Wasserwirtschaft, dem Gesundheitswesen oder dem Wohnungsbau. Warum sollte einer mit Journalismus Geld verdienen? So etwas ist viel zu wichtig, als dass es von der biblischen Wurzel allen Übels, dem lieben Geld, korrumpiert werden sollte. Es gilt dabei, die Frage nach Vermögen und wirtschaftlichem Einfluss als politische Frage zu verstehen und nicht bloß stumpf als Wirtschaftliche.
2. Das allgemeine Stimmrecht ist in seiner derzeitigen Ausgestaltung weder optimal dazu geeignet, die Vorteile der demokratischen Staatsform hervorzubringen, noch stellt es die dauerhafte Kontrolle der Regierten über die Regierenden sicher.
Wer diesen Absatz sofort abschmettern möchte, muss sich vor Augen halten, dass die NSDAP 1933 auf 44% der Stimmen kam und auch wenn sie formal nie das Mandat erhielt, die Demokratie der Weimarer Republik abzuwickeln, dies doch als parlamentarisch stärkste Kraft tat. Daran wurde sie im Übrigen auch nicht durch eine entrüstete Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung gehindert und die letztliche Befreiung erfolgte ebenfalls nicht durch diese ehemals mit allgemeinem Stimmrecht ausgestattete deutsche Bevölkerung, sondern durch externes militärisches Einwirken der Alliierten. Die deutsche Geschichte verunmöglicht es uns deshalb, romantisch verklärt auf Wahlergebnisse zu blicken, nur weil diese auf dem Grundsatz des allgemeinen Stimmrechts zu Stande kamen. Auch dürfen wir nicht annehmen, dass das allgemeine Stimmrecht allein darüber entscheidet, ob ein politisches System demokratisch ist oder nicht. Ganz im Gegenteil, bringt das allgemeine Stimmrecht einige Probleme mit sich, welche den zwei wesentlichen Zielen der Demokratie, der Kontrolle der Regierten über die Regierenden und den bestmöglichen Sachentscheidungen für die Allgemeinheit, entgegenstehen.
Warum? Wer einmal an einem Wahlkampfstand mit seinen Mitmenschen zur Politik ins Gespräch gekommen ist, merkt schnell, dass die Menschen weder das politische System noch die verhandelten Themen immer vollends verstehen. Wer eine Sache jedoch nicht versteht, kann schlecht über sie urteilen. Ein formales Beispiel: Erst- und Zweitstimme. Eigentlich eine Brot und Butter-Grundlage unseres Wahlsystems, die nicht zuletzt aufgrund diverser Grundmandats-Klauseln wahlentscheidend sein kann. Bei der sächsischen Landtagswahl beispielsweise, kam die Linke als Partei nur in den Landtag, weil in direkter Wahl zwei Abgeordnete für sie einzogen. Weil sie dies jedoch tat, kam eine Mehrheit für die alte Regierungskoalition nicht zustande und nun regiert in Sachsen erstmalig eine CDU-SPD-Minderheitsregierung. Waren sich die Direktwähler dieser zwei Links-Politiker dieser vorhersehbaren Konsequenz bewusst?
Verschiedene Umfragen, aus verschiedenen Jahren zeigen, dass die Wähler nicht wissen, wofür die Erst- und wofür die Zweitstimme stehen. Eine Erhebung von Infratest Dimap aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Ergebnis, dass lediglich 47% der Wählerinnen, die Bedeutung der Zweitstimme bei der Bundestagswahl korrekt benennen konnten. Eine Umfrage aus 2018 der Beratungsagentur pollytix zeigt, dass lediglich 28% beide Stimmen korrekt zuordnen können. Wie soll man jedoch eine informierte Wahl treffen, wenn man als Wähler faktisch nicht abschätzen kann, was diese Stimmen nun genau bewirken? Es ist dabei nicht meine Absicht, den Leuten einen Vorwurf zu machen. Ich will schlicht zeigen, dass das bestehende Wahlrecht überfordert und Menschen dazu bringt, über Dinge zu entscheiden, die sie nicht verstehen. Dabei kann dies nicht darauf zurückzuführen seien, dass unseren Mitbürgern die nötigen Informationen und Ressourcen vorenthalten werden. In der Zeit von Google ist das Unfug. Eine Sachinformation, wie die Funktion von Erst- und Zweitstimme zu beschaffen ist kinderleicht. Es scheitert hier nicht an den Möglichkeiten, sondern schlicht am Willen. Der für politisch engagierte Leute schwer zu greifende Hintergrund ist, dass sich die meisten Menschen schlicht nicht, nur mit dem Bauch oder nur oberflächlich für Politik interessieren. Die bestehenden Wissenslücken fallen deshalb gar nicht auf. Man muss eine ganze Menge wissen, um zu wissen, was man nicht weiß. Das ist ja auch so ein philosophischer Evergreen aus der Epistemologie.
Ein weiteres Beispiel inhaltlicher Natur: Am Wahlkampfstand bläkte mich ein Herr charmant an und meinte, dass wegen der SPD und dem Bürgergeld niemand mehr in Deutschland arbeitet. De facto hatten die Zahlen des statistischen Bundesamts jedoch zu diesem Zeitpunkt einen historischen Arbeitnehmer-Höchststand erreicht. Noch nie hatten so viele Menschen in Deutschland gleichzeitig gearbeitet, wie im Jahr 2024. Das teilte ich dem Herrn entsprechend mit. Der jedoch winkte nur ab und fragte mich in welchem Seminar man denn so einen Blödsinn lernt. Das Tragische an dieser Geschichte ist, dass es sich auch hier um schlichte Sachinformationen handelt, die man leicht findet oder über die man sich im Falle eines geistigen Leerstands aufklären lassen könnte. Hier jedoch wurde auf falschen oder nicht vorhandenen Informationen, eine so falsche wie feste These aufgebaut. Auch das soll nicht heißen, dass alle Leute blöd sind. Erst recht soll es nicht heißen, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Auch meine Wissenslücken bieten Raum für ausgedehnte Korallenriffe. Aber es wird einem im politischen Gespräch doch schnell deutlich, dass selbst feste Meinungen und Positionen „nicht immer“ auf fundierter Sachkenntnis fußen. Folglich ist es auch recht einfach, die Leute aufzuhetzen und ihnen ein X für ein U vorzumachen.
Der bekannte Theoretiker der Massenpsychologie Gustave Le Bon brachte, was ich hier lamentiere, bereits 1895 auf den Punkt: "Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer. […] Man darf nicht glauben, eine Idee könne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen. Man wird davon überzeugt, wenn man sieht, wie wenig Einfluss die klarste Beweisführung auf die Mehrzahl der Menschen hat.“
In kürzerer Form soll der ehemalige britische Premier Winston Churchill beklagt haben: „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.“ Derselbe Mann sagte aber auch: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen mit Ausnahme all der anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.“ Deshalb gilt es, an den aktuellen Unzulänglichkeiten unserer Demokratien zu arbeiten statt sie aufzugeben.
Die Macht ist eine Bestie. Nur die Demokratie kann sie zügeln. Wenn alles gut und richtig ist, legt ein demokratisch organisiertes Volk der Macht eine Leine an. Diese Leine begrenzt den Tanzbereich der Machtausübenden in Polizei, Justiz, Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Militär und sie zieht sie in Richtung der Mehrheitsinteressen. Wenn ein Regierungschef sich selbst an der Leine führt, rennt er wohin er will, und zertrampelt dabei achtlos ein paar Leute. Deshalb muss ihn jemand an die Leine nehmen und dafür braucht es die Demokratie. Hierfür aber sind verschiedene Mechanismen denkbar – das allgemeine Wahlrecht ist nicht das einzige und auch nicht notwendigerweise das beste Mittel. Das beste Mittel ist jenes, welches sicherstellt, dass die vom Volk ausgeübte Kontrolle auf Sachkenntnis beruht. Kein Richter der Welt kommt zu einem vernünftigen Urteil, wenn er sich in dem Sachverhalt, den er beurteilen soll, nicht auskennt. Es schwärmen auch nicht alle vier Jahre alle Wirtschaftsprüfer auf einmal aus und prüfen gleichzeitig alle Betriebe - sondern sie nehmen sich Stück für Stück und in gebührender Gründlichkeit einen Betrieb nach dem Anderen vor.
Der Wähler ist in unserem repräsentativen System, der Generalinspekteur der Politik. Er soll mit seiner Stimme über die Leistung der Politik abstimmen und bekunden, wo es lang gehen soll. Diese Rolle können wir aus dem Volk umso besser ausüben, umso mehr der Kontrollmechanismus "Wahlen" eine echte Kontrolle erlaubt. Und ich denke, besser als das allgemeine Stimmrecht, würde hier ein Wahlpersonensystem funktionieren, welches das Wählen selbst in einen amtlichen Rahmen setzt. Das System, welches mir vorschwebt, besteht im Groben aus zwei Elementen. Erstens werden nicht alle Bürger dazu aufgefordert, neben ihren Alltagssorgen auch noch über ihre politischen Vertreterinnen abzustimmten. Stattdessen erhalten 1 - 3 % der Wahlberechtigten eines Wahlkreises das Angebot ein sondergestelltes auf die Wahl befristetes Amt als Wahlperson auszuüben. Zweitens wird nicht in festen Intervallen über alles gleichzeitig abgestimmt, sondern in einem ständig laufendem Verfahren, verfallen einzelne Sitze im Parlament und werden neu besetzt.
In der Praxis liefe was ich mir vorstelle am Beispiel des sächsischen Landtags so: Der Sächsische Landtag hat 120 Sitze, die im Zeitraum von fünf Jahren alle neu besetzt werden müssen. Bedeutet 24 pro Jahr und 2 Sitze pro Monat. Wenn ein solcher Sitz sich seinem Verfallsdatum nähert, versendet die Landeswahlleitung Briefe an zufällig ausgewählte Wählerinnen im entsprechenden Wahlkreis. Diese können dann, ähnlich wie beim Schöffenamt, sich entscheiden, ob sie ihre Verantwortung als Wahlmann oder -frau wahrnehmen wollen. Sobald 1 – 3% der Wählerinnen sich dazu entschlossen haben, das Amt als Wahlperson wahrzunehmen, beginnt der Wahlprozess. Die Wahlmänner und -frauen, können sich nun in begrenzter Weise von der Arbeit freistellen lassen, um mit den zur Wahl stehenden Abgeordneten und Parteien zu sprechen, Veranstaltungen zu besuchen, Wahlprogramme zu lesen, sich mit Expertinnen zu beraten, etc. Es wird folglich ein geordneter mehrmonatiger Prozess aufgesetzt, in dem die Wählerinnen sich nach eigenem Gutdünken informieren und beraten können und dazu auch die entsprechenden Ressourcen an die Hand bekommen. Abschließend wählen die Elektoren einen Abgeordneten für ihren Wahlkreis in freier und geheimer Wahl.
Die Vorteile dieser Methode:
1. Wahlen werden weniger anfällig für manipulierende Propaganda und sachlicher im Ton, da ein direkter Austausch zwischen den Wählern und Kandidaten möglich ist. Statt wie heute aus zweiter Quelle, können sich alle Wahlmänner und -frauen aus erster Quelle informieren. Während heute Wahlen durch eine Beschallung der Wählermassen mit erfolgreicher Werbung gewonnen werden, müssen im Wahlpersonensystem die Parteien und Kandidaten immer in den direkten Austausch mit den Wahlfrauen- und männern treten.
2. Das Wählen wird von einer faktischen Nebensache zu einer mit Ressourcen ausgestatteten amtlichen Aufgabe erhoben. Wahlmänner und -frauen, die sich Zeit und Expertise nehmen können, sind in der Lage qualitativ hochwertige Entscheidungen zu treffen. Hier durch steigert sich die Kontrolle, die vom Wähler über die Politik ausgeübt werden kann. Parteien und Abgeordnete werden nun potentiell auf Herz und Nieren überprüft.
3. Die politische Arbeit in den Parlamenten bekommt eine neue Kontinuität, die durch die alle paar Jahre stattfindenden Wahlkämpfe und Wechsel nicht gegeben ist. Statt periodisch schwankenden Mehrheitsverhältnissen Rechnung tragen zu müssen, muss sich hier der Politbetrieb auf langfristiges und permanent tragbares politisches Handeln einstellen, dass einer permaneten Bewertung unterliegt. Ein "vor" und "nach" der Wahl, gibt es nicht mehr. Die Wählerin schaut der Politik immer auf die Finger.
4. Die Politik wird zu einer Sache derer, die bereit sind, sich intensiv mit Politik
auseinanderzusetzen statt zu einem faktischen Zwang aller. Heute wird das Wählen auch denen abverlangt, die sich nicht oder nur wenig für Politik interessieren, da Mobilisierung ein entscheidender Faktor für den Wahlsieg ist. Somit wird in einer Wahl nicht nur die sachliche Qualität der Politik, sondern schlicht auch die Verkaufe einer Partei entscheidend. Eine charismatische Kandidatin bringt Stimmen – obwohl dieses Charisma den Interessen der Bevölkerung letztlich wenig nutzt.
Der klare Nachteil der Wahlpersonen-Methode liegt darin, dass durch eine tendenziöse Ausgestaltung des Wahlprozesses oder eine nicht zufällige, sondern gesteuerte Auswahl der Wahlfrauen und -männer sowie durch Bestechung der Ausgewählten die Ergebnisse in unlauterer Weise verzerrt werden können. Dieser Nachteil jedoch besteht auch heute: Jede Wahl ist nur dann legitim, wenn sie in einem fairen Umfeld stattfindet. Wenn vor dem Wahllokal ein bewaffneter Söldner steht, wenn alle Informationsquellen eines Landes voreingenommen sind oder sich nur eine Partei auf dem Wahlzettel ankreuzen lässt, kann man sich die Ergebnisse in die Haare schmieren.
Summasumarum deuten die vergangenen Wahlen für mich also schlicht auf tiefgreifende strukturelle Probleme und Konstruktionsfehler hin, die unseren politischen und ökonomischen Systemen zu Grunde liegen. Das ist erstmal nicht verwunderlich: Das Studium der Geschichte zeigt uns, dass alle politischen und wirtschaftlichen Strukturen einem permanenten Wandel hin zum -hoffentlich- besten Modell unterliegen. Die kaiserliche Ständegesellschaft war schlechter als die Weimarer Reichsverfassung und die wiederum war schlechter als unser Grundgesetz. Dieses jedoch, wird auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Die spannende Frage ist, ob die nötigen Änderungen an unserem politischen System, nur durch einen vollständigen Zusammenbruch der Demokratie, Krieg und Gewalt ermöglicht werden oder ob wir Demokraten die Weisheit, Kraft und Entschlossenheit finden, aus uns selbst heraus den systemischen Wandel zu vollziehen. Ein Wandel, hin zu einer Begrenzung des Besitzes und hin zu einem sachlicheren und damit strafferen Wahlsystem. Man kann bekanntlich auch mit dem Rauchen aufhören, bevor das Bein schwarz wird. Obgleich die Zyniker meinen, dass ein Mensch bereits klug sei, wenn er, nachdem er das erste Bein ans Rauchen verloren hat, zumindest das Zweite durch Abstinenz rettet. Wir werden es sehen und wir werden hoffentlich machen.